• Dr. Brigitte Heise - Einführung Waltraud Stalbohm, Klang der Stille, Segeberger Kunstverein
    „Klang der Stille“ – heißt die Ausstellung von Waltraud Stalbohm, die wir Ihnen heute zeigen - eine sehr ernste, beklemmende Ausstellung.
    Es ist nicht nur die dunkle Jahreszeit, die sie so passend erscheinen lässt. Wir leben ja seit etlichen Monaten in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, die uns ängstigt und bedrückt. Allerdings sind die Werke, die Sie hier sehen, keine unmittelbare Reaktion auf die aktuelle politische Lage. Die meisten sind in den Jahren zwischen 2005 und 2017 entstanden, also Jahre, bevor der Krieg wieder uns so nahe gerückt ist. Sie zeigen in eindrucksvoller Weise, dass Menschen schon immer und immer wieder Leid zugefügt wurde und wird. Es sind zeitlose Arbeiten, die ihre Aktualität behalten werden.
    Anlässe der Arbeiten sind politische Ereignisse, Fotos, Gehörtes, Gelesenes, Gesehenes.
    „Eindrücke, die mich anspringen, die in mir etwas auslösen, mich in Unruhe versetzen. Ich glaube, künstlerisch beschäftigen mich die Verletzungen seelischer Art, die sich körperlich manifestieren – körperliche Verletzungen und Demütigungen, die auf die Seele, die Würde, den inneren Halt des Menschen abzielen,“ so hat es Waltraud Stalbohm selbst gesagt.

    Im Zentrum der Ausstellung - und hier auch im zentralen Raum - steht ein Werk mit dem Titel: „Charta der Menschenrechte“. Die Paragraphen der Charta sind in Blei geritzt, in das Material, das wir automatisch mit Gewalt, mit Krieg verbinden. Die Schrift ist kaum noch lesbar, fast ausgelöscht. Durch die Mitte verläuft ein Riss, aus dem so etwas wie Blut oder Eiter quillt. Damit werden gleichsam diese Rechte verletzt und die Würde des Menschen, des obersten Paragraphen der Charta. Es ist das Schlüsselwerk, vor dessen Hintergrund wir die anderen „lesen“ können.

    Wie Sie sehen, haben wir nur wenige großformatige Gemälde gehängt, nur einzelne Plastiken gestellt. Denn jedes Werk fordert seinen eigenen Raum und von uns eine besonders intensive Betrachtung oder Auseinandersetzung.
    Es sind stille Arbeiten. Die Gemälde zeigen meist nur eine einzelne Figur, keine Personengruppen, keine eindeutige Handlung, die findet allein in der Imagination des Betrachters statt und im Ausdruck und der Haltung der dargestellten Figur. Diese Gestalt steht meist im leeren oder nicht näher definierten Raum.

    Waltraud Stalbohm hat verschiedene Themenkreise, die für uns nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen sind.
    Da ist das Thema Flucht, gleich im Eingangsbereich.
    Ein Mann steht hinter einer dornigen kahlen Hecke, der weitere Weg ist ihm verschlossen, eine zutiefst deprimierende Situation. Wir, die Betrachter, scheinen auf der offenen Seite zu sein. Aber die scheinbare Hoffnungslosigkeit wird ganz verhalten aufgebrochen. Da leuchten in den Dornen rote Hagebutten, der Blick des Eingeschlossenen ist offen in die noch nicht zu erreichende Ferne gerichtet.
    Aber man kann das auch anders lesen: Vielleicht stehen wir auch vor der bedrohlichen Hecke und können nicht hindurch, und vielleicht sind die roten Früchte gar kein Hoffnungszeichen, sondern das Rot ist die Farbe des Blutes, so wie auf mittelalterlichen Gemälden die roten Früchte oft auf die Passion Christi hinweisen. Vieldeutigkeit, Mehrdeutigkeit …. Waltraud Stalbohms Arbeiten fordern zum Dialog mit uns und dem Werk auf.
    Einsamkeit, Schutzlosigkeit wird zum Thema in dem Gemälde: „Die Frau mit Umhang“. In einem nahezu schwarzen Raum hüllt sich eine Frau in eine weite Steppdecke, sie ist barfuß, ihr Gesicht bleich, der Blick müde, er fasst nichts. Ganz verhalten, so sehe ich es zumindest, wird hier das Motiv der Schutzmantelmadonna angespielt und geradezu ins Gegenteil verkehrt. Unter ihrem weiten Umhang findet niemand Schutz, sie selbst bedarf des Schutzes.
    Ihr zugeordnet ist hier die plastische Arbeit „Frau mit Kappe“, eine Büste. Die Arme sind umwickelt, so dass sie zur Bewegungslosigkeit gezwungen ist. Ihren Kopf umschließt eine Kappe aus Blei, die mit Nägeln auf dem Kopf befestigt sind. Das Gesicht ist still, zeigt keinen Schmerz, nur tiefe Traurigkeit. Wir wissen nicht, wie sie in diese Situation gelangt ist.

    Wir assoziieren mit solchen Arbeiten unwillkürlich rohe Gewalt, die den Menschen angetan wird. Aber das ist das Besondere an den Werken von Waltraud Stalbohm: Die Gewalt ist still, sie ist nur immanent enthalten. Aber damit geht sie dennoch sogleich in die Gedanken und Gefühle des Betrachters ein. Wir sehen, was sie mit dem Menschen und seiner Seele macht.
    Nach einem Foto des großen französischen Fotografen Henry Cartier-Bresson entstand das Gemälde „Die Wand“, 2005. Das Kind ist völlig allein einer drohenden Welt ausgesetzt, die in subtile Schwarz- und Grautöne übersetzt ist. Der Krieg, der den Hilflosen, den Schuldlosen das größte Unheil zufügt, wird hier thematisiert. Der weitgehende Verzicht auf Farbe, bis auf rötliche Farb- oder Blutbahnen am unteren Rand, macht diese Darstellung besonders bedrohlich. Das Gemälde ist als Triptychon gestaltet, quasi als Altarbild, vor dem gemeinhin um göttlichen Beistand und Zuspruch gebetet wird – fast mutet es wie bittere Ironie an. Warum lässt Gott das zu?

    Die plastischen Arbeiten sind, so möchte ich es nennen, festgehaltene Posen eines Ausdrucktanzes, der Schmerz, Leid, Melancholie in Bewegung und Musik umsetzt. Auch sie erfordern intensive Betrachtung.
    Der letzte Raum zum Garten hin beherbergt ein weiteres Schlüsselwerk, das Werk, das der Ausstellung den Namen gegeben hat: „Klang der Stille“:
    Ein Objektkasten. Es ist ein klaustrophobisch enger Raum mit einem langen schmalen Fenster, der Fußboden ist mit Blei belegt. Im Innern hängen Schnüre herab und bilden ein wechselvolles lebendiges Spiel. Es sind Saiten verschiedener Streichinstrumente, die oben auf dem Dach verknotet sind. Die Künstlerin spielt damit auf die Steine an, die auf jüdischen Grabstelen liegen. Mich erinnert der Raum an die Architektur des Libeskind-Baues des jüdischen Museums in Berlin. Die Arbeit ist ein Mahnmal, das viele Assoziationen hervorruft: vor allem die verzweifelten Konzerte der jüdischen Musiker in den Konzentrationslagern, die einigen von ihnen das Leben gerettet haben. So schwingt auch hier in den schwebenden tanzenden Saiten etwas wie aufkeimende Hoffnung mit. Begleitet wird die Installation mit dem „Song of the birds“ von Pablo Casals.

    Ich bin nicht die erste, die angesichts der Arbeiten von Waltraud Stalbohm an Celan denkt, zumal sie selbst eine ihrer Arbeiten nach einem Text des jüdischen Dichters genannt hat. Celan hat einmal über seine lyrische Sprache folgendes gesagt:
    "Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sie her, kann sie, bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarteten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie misstraut dem 'Schönen', sie versucht, wahr zu sein. Es ist also (...) eine 'grauere' Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre 'Musikalität' an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem 'Wohlklang' gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte."
    Das, so finde ich, passt auf die bildnerische Formensprache der Künstlerin: Es sind außerordentlich ästhetische Werke, in einer nahezu klassischen Form, die sich einem beklemmenden Thema widmen, gleichsam einer „bleiernen Zeit“. Das, was Celan die „grauere“ Sprache nennt, ist hier die strenge Reduktion, die verhaltene Bildsprache, die so vieles beinhaltet. Es sind stumme Klagelieder, deren melancholische Schönheit und Musikalität dem Schrecken unserer Welt antwortet.

    Dr. Brigitte Heise

  • Katalogtext für Waltraud Stalbohm 4/2017 (c) Jens Rönnau
    Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf

    Eine Frau steht da vor schwarzem Hintergrund, barfuß, mantelartig umhüllt von einer wulstigen gesteppten Decke mit silbrigem Glanz, die sie über die Schultern geworfen hat. Darunter trägt sie ein dunkles, leichtes Gewand. Während ihre Füße eine bräunlich-grünliche Farbigkeit haben, sind Hals und Gesicht fast weiß, hier und da ins Rosa spielend. Ihre Augen sind geöffnet, doch der Blick geht zur Seite, scheint leer und nach innen gekehrt.

    "Frau mit Umhang" titelt Waltraud Stalbohm ihr lebensgroßes Ölgemälde schlicht, das sie Ende des Jahres 2016 auf der Landesschau des schleswig-holsteinischen Künstlerverbandes in der Kieler Stadtgalerie zeigte. Etwa fünf Meter vor diesem Bild installierte sie eine ebenfalls lebensgroße Gipsbüste einer weiblichen Figur, deren Arme herabhängend eingewickelt unter einem weißen Tuch verschwinden. Der Kopf ist bedeckt mit einer eng anliegenden Kappe aus Blei, die an eine Badekappe denken lässt. Sie ist sichtbar mit dünnen Nägeln an der Figur fixiert. Während der Körper in seiner mattgrau-bräunlichen Farbigkeit etwa die Gesichtsfarbe der Person im Gemälde aufnimmt, korrespondiert das Bleigrau der Kopfbedeckung mit der gemalten Decke im Bild. Der Mund der Gipsbüste ist leicht geöffnet, die Augen halb geschlossen, wobei der Zwischenraum der Augenlieder in ein dunkles Nichts zu führen scheint, was an Totenmasken erinnert.

    Beiden Darstellungen haftet eine gewissen Leere an, eine melancholisch anmutende Einsamkeit oder Verlassenheit, was besonders im Bild durch den nachtschwarzen Hintergrund gesteigert wird. Was mag die Künstlerin zum Schaffen solcher Werke treiben?

    Schon für sich allein und erst recht in ihrer Kombination können beide Werke Gefühle der Nachdenklichkeit, auch der Beklommenheit erzeugen. Und es war in der Ausstellung zu beobachten, dass sich das Publikum dieser Inszenierung besonders widmete. In gewisser Weise war man wie magisch angezogen - vielleicht weil die Wirkungen Fragen aufwerfen ohne Antworten bereit zu halten: Die Fragen prallen auf den Betrachter zurück, scheinen dessen Fragen an ihn selbst zu richten. Man könnte beide Arbeiten insofern als eine Diskurshilfe zur Nachdenklichkeit begreifen, als Hilfe zur Frage, worüber es nachzudenken gilt. Hier wäre dem Betrachter als Individuum nun alle Freiheit der Deutung und Bezugnahme gegeben.

    Blickt man auf das Gesamtwerk von Waltraud Stalbohm, so nehmen diese Arbeiten eine Sonderstellung ein - und passen dennoch nahtlos dazu. Da sind jene Leiber, die rücklings in Schnüren hängen, etwa eine lebensgroße Personenfigur aus Wachs und Papiermaché, eingewickelt in Stoff und an Bindfäden in ein Eisengestell gehängt. Stalbohm titelt dazu "Dein aschenes Haar Sulamith" - und lässt damit keinen Zweifel, dass es um den Holocaust des Nazi-Deutschlands geht, um den Massenmord an den Juden und anderen Völkern und Bevölkerungsgruppen. "Ich habe mich sehr mit dem Verschwinden der Juden beschäftigt", sagt die Künstlerin. Die in Schnüren hängende Figur begreift sie auch als "Pieta", der sie ihre Würde zurückgeben möchte. Insofern ist sie symbolisch schützend gewickelt und schwebend präsentiert.

    Ein anderer Zyklus heißt "Schatten": Raumbeherrschend sind große Bahnen aus Transparentpapier von der Decke bis zum Boden gehängt, auf denen mit weißlicher Lackfarbe jene geschundenen Körper Geistern gleich erscheinen, wie man sie aus Erinnerungszeichnungen ehemaliger KZ-Gefangener kennt, in ihren Übersetzungen etwa von Malern wie Francis Bacon oder Harald Duwe. Bei Waltraud Stalbohm bilden diese Bahnen in großer Anzahl ein Labyrinth solcher Bilder, das einen zumindest gedanklich kaum freigeben will. Diesem 1998 entstandenen Zyklus folgte zwei Jahre später eine Reihe fragmentarischer Menschenbilder aus Kalk und Wachs auf 1,80 Meter langen Bleibahnen, als solle das Leid jener Geschundenen stockend nachbuchstabiert werden.

    Parallel dazu gibt es Bilder auf 24 Bleitafeln. Jeweils ein lebensgroßer Kopf ist schemenhaft mit Kalk darauf gemalt: "Requiem" - es sind die Gesichter von Kindern aus Konzentrationslagern, verblassend und brüchig auf jenes graue, schwere Material gebracht. 2012 kommt das Material im Rahmen der 1. Stormarner Kirchenmusiktage während einer Performance zum Einsatz. Mit transparent-weißlicher Schrift schreibt sie die Menschenrechtscharta auf eine lange Bleitafel, um diese sodann von oben nach unten aufzuschlitzen und gelblichen Schaum hindurchtreten zu lassen. Dazu erklingt Orgelmusik: "Complementations" von Miklós Maros - eine Kombination, die erschauern lassen kann.

    Ein anderes wiederkehrendes Thema sind vereinzelte Möbelstücke, ein leerer weißer Stuhl vor dunklem Grund etwa oder eine wackelige Liege in einem leeren hellen Raum, die von roten Tropfspuren gezeichnet ist und unzweideutig auf das Grauen von Unrecht und Folter verweist. Auch der Stuhl weist eine rätselhafte rote Spur auf - Stalbohm hat sich durch Folter-Berichte von Amnesty-International solchen Darstellungen zugewandt.

    Es geht, zusammenfassend betrachtet, um ein Lamento, um ein Klagelied auf das Leid der Welt, auf Ungerechtigkeiten und Unfassbares. Es geht um einen empathischen, schmerzvollen Blick auf das, was Menschen sich seit der Existenz der Menschheit immer wieder antun: Da ist - natürlich - Auschwitz, da ist der millionenfache Mord in Konzentrationslagern durch Deutsche, da ist das millionenfache Morden der Militärs auf ihren Schlachtfeldern und unter der Zivilbevölkerung, da ist die verfehlte Politik, die Gier der Menschen nach Geld und Macht, die solche Entgleisungen ermöglichen.

    Warum aber widmet die Künstlerin sich so umfassend diesen Themen? "Es gelingt mir nicht, etwas Heiteres zu machen - es macht immer wieder eine Kehre und geht ins Düstere", verrät sie. Und immer wieder treiben sie ähnliche Themen an die Staffelei oder an die Gipsmodelle. Waltraud Stalbohm ist Nachkriegskind, 1947 geboren. Sie beschreibt ihre Mutter als humorvoll, gefühlvoll. Ihr Vater war im Zweiten Weltkrieg Schlosser in einem Fliegerhorst, später Frontsoldat in Frankreich. Wie so viele sprach er nie über den Krieg - und brach Gespräche sofort ab, wenn sie darauf kamen. Insofern gehört die Künstlerin der typischen Generation der Nicht-Informierten an, die man meinte, bewahren zu können, vor denen verheimlicht wurde - und die sich dann in der 1960er Jahren mit umso größerer Vehemenz die Antworten selbst zu suchen begannen. Vielleicht kann man die Antworten auf seine Fragen auch beim Malen suchen - ein Suchen, das bei Stalbohm oft im Buchstabieren der Tat zu erstarren scheint.

    Aber nur Anklage? Nur Lamento? Eine ganze Reihe ihrer Arbeiten sind als Nahtstelle zu Lösungen aus dem Dilemma anzusehen. Dazu zählt etwa die "Sulamith"-Installation, die einen Versuch um Heilung anstimmt. Dazu zählen aber auch die aneinandergeschmiegten Steinguss-Köpfe, die ein gefühlvolles "Tangopaar" darstellen oder die hingekritzelte Zeichnung einer Person, die eine andere an einer Leine emporzieht: "Flieg ein bisschen". Als kleine Fluchten erscheinen solche Arbeiten vor den übermächtigen Schreckensthemen.

    Nahtstellen dazu können aber auch Werke sein wie das Gemälde und die Büste in der Landesschau 2016. Man könnte bei ihnen sogar von Schlüsselwerken sprechen, um aus der Erstarrung vor dem Unfassbaren heraus gelangen zu können, denn sie beziehen sich auf den damit konfrontierten Unbeteiligten, auf die Innenschau des Individuums, das neben jenem Geschehen der Verbrechen an der Menschheit steht: überwältigt, hilflos, nach Orientierung suchend, nach Wegen einer Verbesserung. Das erscheint, bei verallgemeinernder Betrachtung, eine Sisyphosarbeit zu sein, denn was einst unter der Verantwortung unserer deutschen Vorfahren geschah, ist derzeit zwar auf deutschem Boden oder unter deutscher Zuständigkeit kaum wahrscheinlich - leider aber geschieht Ähnliches bis heute auch weiterhin in der Welt, derzeit beispielsweise in Syrien oder einigen afrikanischen Staaten. Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen aus Gesellschaften, Pogrome sind immer wieder vorkommende Verbrechen von Menschen an Menschen. "Der Mensch ist wie er ist", sagt Stalbohm, "es wird immer weiter passieren, das macht mich einfach fassungslos, ich reagiere aus einer Ohnmacht heraus."

    "Homo homini lupus" formulierte der Staatstheoretiker und Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert - "der Mensch ist dem Menschen ein Wolf". Schon er bezog sich damit auf die wesentlich ältere Redewendung des römischen Komödiendichters Titus Maccius Plautus in vorchristlicher Zeit. Sinngemäß sagte jener damals: "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, solange man sich nicht kennt." Doch wie fähig ist die Menschheit, Andersartiges wirklich kennen zu wollen oder es zu können? Wie viel Fremdheit erträgt ein Mensch, bevor er sich abgrenzt? Wo beginnt für wen der Bereich der Zumutung? Wir können das derzeit tagtäglich wieder im "eigenen Lande" nachvollziehen, müssen Strömungen beobachten, wo die große Not anderer Menschen erst zu Massenflucht führt, dann zu zunehmenden Abgrenzungserscheinungen in den Zufluchtsgebieten - und schließlich nur allzu oft zu Hass und Gewalt. Die Spirale dreht sich und scheint unendlich zu sein.

    Sehen wir auf die beiden eingangs beschriebenen Werke von Waltraud M. Stalbohm, so kann man sich auch gut vorstellen, dass ähnliche Gedanken zu diesen Darstellungen geführt haben, dass jene Frau die Decke gleichsam als belastenden Alptraum wie als wärmende Hülle empfinden könnte, dass die in der Gipsbüste Dargestellte als nachdenklich Versunkene nach Antworten sucht. Wer übrigens die Urheberin kennt, kann in dieser Figur zumindest Ähnlichkeiten zu ihr feststellen. Dass sie selbst diese Thematik als ein sehr persönliches Thema behandelt, ist kaum übersehbar.

    Mir scheint, dass die Künstlerin sich vor diesen schier unüberwindlichen Berg gestellt hat - oder ist es eher ein Tal, in das wir hineinstürzen oder hinabgesogen werden können? Sie zeichnet, malt, formt - arbeitet sich ab an diesem schweren Erbe und zeigt damit, dass sie ein Stück Verantwortung übernommen hat - nicht an dem Geschehen von einst, sondern an der Aufgabe der Nachfolgegenrationen, damit offen umzugehen, um zumindest Chancen und bessere Strategien für die Zukunft zu entwickeln. Eine formuliert Waltraud Stalbohm fast wütend: "Toleranz allen gegenüber!"

    Jens Rönnau
  • Ingaburgh Klatt zur Werkschau – Malerei und Plastik
    „… ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarethe
    dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
    er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
    er ruft spielt dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
    dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng ...“
    aus: Paul Celan „Die Todesfuge“

    Die Installation von Waltraut Stalbohm DEIN ASCHENES HAAR SULAMITH von 2007 hatte mich sofort gefesselt. Natürlich hatte auch der Titel Assoziationen wach werden lassen, an die immer wieder berührende „Todesfuge“ von Paul Celan, die den Mord an den jüdischen Menschen Europas beklagt. Aber die Faszination ging nicht vom Titel aus, sondern von der scheinbar schwerelosen, schwebenden Figur, die dem Hier so gänzlich entrückt war.

    Zum ersten Mal sah ich diese 2007 entstandene Arbeit in einer Jahresschau der Lübecker Künstler im Kulturforum Burgkloster zu Lübeck. Waltraud Stalbohm war seit 1999 regelmäßig in den Jahresschauen mit einer oder mehreren Arbeiten vertreten, mit Objekten und Malerei. Das gab mir immer wieder die Gelegenheit, mich intensiv mit ihnen auseinanderzusetzen.

    Regelmäßig stellt sie auch seit Jahren in den Landesschauen des BBK Schleswig-Holstein aus sowie in vielen weiteren Ausstellungen in Schleswig-Holstein, Hamburg und darüber hinaus seit 1977. Gemeinsam mit Künstlerkollegen und Politikern hat sie 1989 die „Künstlerinitiative Stormarn“ gegründet, eine Vereinigung von KünsterInnen, die der Kunst in Stormarn mehr Gewicht einräumen wollte, in der sie selbst auch bis heute aktiv ist.

    Doch noch viel zu selten war ihr Werk in einer Einzelausstellung zu sehen. Deshalb freut es mich sehr, dass jetzt die „Werkschau – Malerei und Plastik“ von Waltraut Stalbohm vom 21. Mai bis 2. Juli 2017 im Schloss Reinbek gezeigt wird. Neben Malerei werden Objekte und Installationen den Mittelpunkt der Ausstellung bilden.

    Die intensive Betrachtung von Bildern, Objekten und Installationen erfordert eine sinnliche Wahrnehmung, - keine rationale, wie sie z.B. das Lesen wissenschaftlicher oder gesellschaftspolitischer Texte verlangt. Unsere Sinne werden angesprochen, Reize aktiviert, die das Unterbewusstsein anrühren. Es entsteht eine erhöhte Sensibilität – für die Kunst, aber auch für alles, das uns umgibt – die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, in denen wir leben.
    Das trifft im besonderen Maße auf die Werke Waltraut Stalbohms zu.

    Nicht selten sind ihre Arbeiten auf den ersten Blick verstörend. Gleichzeitig fällt es schwer, den Blick abzuwenden, weil eine ungeheure Faszination von ihnen ausgeht. Sie ziehen das Interesse der BetrachterInnen fast magisch an: die Köpfe, die Torsi, die Gestalten, - als Malerei wie als plastische Arbeiten oder Installationen.

    Manche Menschen entziehen sich jedoch dem Dialog mit den Arbeiten, weil sie sofort spüren, dass dieser sie fordern würde, dass man sich nur intensiv oder gar nicht auf die Werke einlassen kann. Denn die Bilder, Plastiken und Installationen sind parteiisch, sie nehmen Stellung zu Konflikten und Problemen in dieser Welt - in Vergangenheit und Gegenwart. Sie entstehen aus einem tief empfundenen Mitleiden im wörtlichen Sinne, das Ausdruck findet in vielfältigen künstlerischen Formen.

    „Anlässe sind Bilder, Fotos, Gehörtes, Gelesenes, Gesehenes – Eindrücke, die mich anspringen, die in mir etwas auslösen, mich in Unruhe versetzen, was ich gar nicht genauer definieren kann in diesem Moment. Mit der Arbeit versuche ich dann, herauszufinden, was diese Unruhe in mir ausgelöst hat.
    Ich glaube, künstlerisch beschäftigen mich die Verletzungen seelischer Art, die sich körperlich manifestieren – körperliche Verletzungen und Demütigungen, die auf die Seele, die Würde, den inneren Halt des Menschen abzielen.“ so die Künstlerin.

    So lange es Menschen gibt, haben Künstler und Künstlerinnen den Weg gewählt, mit Malerei, Zeichnung, Bildhauerei die Menschen zu sensibilisieren, zu öffnen für Gedanken und Ideen ethischer Natur. In den Arbeiten von Waltraut Stalbohm ist kein erhobener Zeigefinger zu finden. Sehr zurückhaltend stellen sich die Plastiken, die Malerei dem Blick der Kunstinteressierten. Es sind keine lauten, schnellen Botschaften, sie erschließen sich erst langsam und leise.

    Starke Assoziationen weckt die 2006 entstandene Skulptur „Kopf mit Saiten“, die in einem Kubus aus Plexiglas plaziert ist. Ein von vielen Saiten durchbohrter Kopf lässt an den „gläsernen Menschen“ denken, der kontrolliert, von allem Seiten beobachtet wird, dessen Gedanken überwacht und registriert werden, „Big brother is watching you“. Nicht nur in totalitären Staaten ist diese Überwachung alltäglich, in den Zeiten der Digitalisierung von – vielfach freiwillig preisgegebenen - Daten sind die Menschen einer ständigen Beobachtung zum Beispiel zu kommerziellen Zwecken ausgesetzt.

    Emotional aufrüttelnd ist das Bild „Die Wand“, das Waltraut Stalbohm nach einem Foto Henry Cartier-Bressons 2005 gemalt hat. Es zeigt ein Kind vor einer großen dunkelgrau strukturierten, nach oben hin hellgrauen Wand. Sie könnte durch Feuer geschwärzt sein, könnte auch Einschüsse haben, könnte eine Wand in einer von Krieg zerstörten Stadt, vielleicht verlassenen Stadt sein, in der dieses Kind allein zurückgeblieben ist. Die Augen des Kindes sind geschlossen, mit dem einen ausgestrecktem Arm scheint es sich an die Wand zu lehnen, der andere Arm streckt sich nach unten. Das zarte Kind, dessen blasses Gesicht mit dem blassblauen Hemd korrespondiert, wirkt verloren vor der vergleichsweise riesigen Wand - ein Symbol für das ungeheure Leid, das vielen Kindern widerfährt – bis heute.
    Aus dem Bild spricht die große Empathie, welche die Künstlerin empfindet. Diese überträgt sich auf die BetrachterInnen der. Arbeit.

    „Die Sehnsucht nach einer friedlicheren, toleranteren Welt, geprägt durch ein Miteinander und im Kontrast dazu die Wahrnehmung einer Wirklichkeit, in der geistige, politische, religiöse Konflikte mittels physischer und psychischer Gewalt ausgetragen werden, sind Anlass für meine künstlerisches Arbeiten.“

    Diese Aussage Waltraut Stalbohms bestätigt sich in den vielen unterschiedlichen Arbeiten der Künstlerin, die im Schloss Reinbek zu sehen sind. Sie regen zur Reflexion der eigenen Position im Hier und Heute an.

    Ingaburgh Klatt